Bindungsvermeidung als gesellschaftliches Phänomen
8. Bindungsvermeidung im Alltag
Bindungsvermeidende Menschen sind durchaus gesellig, sie haben Kontakte, die sich durch eine Vereinsmitgliedschaft, rein nachbarschaftlich oder durch ihr Eltern-Sein ergeben und meist auf einer funktionalen Ebene bleiben. Freundschaften, in die sie sich emotional einbringen, haben sie selten. Sie bevorzugen Bekanntschaften, in denen keine tiefe emotionale Basis besteht und dadurch eine A. Sobald jemand „zu viel“ Nähe einfordert (z. B. emotionale Unterstützung in Krisenzeiten), ziehen sie sich zurück. Gruppenaktivitäten wie Vereine, Sportgruppen sind für sie gute Gelegenheiten, denn dort können sie soziale Kontakte knüpfen, ohne sich emotional öffnen zu müssen.
Sie sind gesellschaftlich sehr aktiv und beliebte Gesprächspartner, weil sie es verstehen, Gespräche am Laufen zu halten. So zu vermeiden sie es, über persönliche oder emotionale Themen zu sprechen. In Krisenzeiten fällt es ihnen jedoch schwer, Unterstützung zu suchen, weil sie emotionale Abhängigkeit als Schwäche empfinden.
9. Bindungsvermeidung in der Familie
Viele Bindungsvermeidende haben ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Herkunftsfamilie. Sie meiden emotionale Gespräche mit Eltern oder Geschwistern und können „plötzlich abtauchen“, wenn es in der Familie belastend wird. Brüche mit Teilen der Familie sind daher nicht selten. In der Elternrolle kann sich der vermeidende Bindungsstil unterschiedlich äußern. Manche werden selbst emotional distanzierte Eltern, die gut für ihre Kinder sorgen, aber wenig emotionale Wärme zeigen. Andere sind nahezu übermäßig engagiert in ihrer Elternrolle, weil sie so in einem kontrollierten Umfeld Nähe erleben können.
10. Bindungsvermeidende im Berufsleben
In unserer Gesellschaft gilt Unabhängigkeit und emotionale Kontrolle häufig als Stärke. Bindungsvermeidende Menschen erleben deshalb keinen gesellschaftlichen Druck, ihr Verhalten zu hinterfragen. In einem rein professionellen Umfeld und überall dort, wo nur oberflächliche oder funktionale Beziehungen notwendig sind, entsprechen sie als beherrschte und vernunftorientierte Personen dem Idealbild der Gesellschaft. Rationalität, Entscheidungsstärke und Effizienz werden oft über Emotionen gestellt. Ein starker Fokus auf Arbeit und emotionale Kontrolle gelten als professionell. In einer solchen Leistungsumgebung bestätigen sich Bindungsvermeidende in ihrer Haltung, weil auch dort emotionale Abhängigkeit als Schwäche gewertet wird. Viele Bindungsvermeidende definieren sich daher stark über ihre Karriere und umgehen darüber emotionale Themen. Im Berufsleben vermeiden Bindungsvermeidende (Team)Konflikte. Sie identifizieren sich mit ihrer Tätigkeit und erfüllen ihre Aufgaben oft perfektionistisch, auch um keine Angriffsfläche zu bieten. Sie bevorzugen für sich eine rationale und nicht emotionale Führung.
11. Bindungsvermeidende und das Ideal der Unabhängigkeit
Soziale Medien oder populäre Narrative stellen emotionale Unabhängigkeit oft als Ideal dar („Du brauchst niemanden außer dich selbst“). Das verstärkt die Tendenz der Bindungsvermeidenden, emotionale Nähe zu meiden. Zudem haben sie über die Jahre Strategien entwickelt, um ihre wahren emotionalen Bedürfnisse zu unterdrücken, sodass sie sich selbst als „normal“ oder „überlegen“ empfinden.
Bindungsvermeidende erleben sich selbst als funktional, erfolgreich und gut im Leben stehend, da sie früh gelernt haben, allein klarzukommen. Ihre emotionale Distanziertheit interpretieren sie als rationale Überlegenheit. Typische innere, aber nicht unbedingt bewusste, Glaubenssätze sind:
- „Beziehungen sind anstrengend und bringen nichts.“
- „Emotionale Abhängigkeit ist eine Schwäche.“
- „Ich bin einfach nicht der Typ für große Gefühle.“
- „Andere klammern zu viel, ich brauche das nicht.“
Wegen dieser Überzeugungen sehen sie keinen Grund, ihr Verhalten zu hinterfragen, insbesondere solange sie in einigen Lebensbereichen wie Karriere, Freundeskreis, Ehrenamt, Verein, Sport Erfolg haben.
11. Die Rolle von Dating-Apps und modernen Beziehungsmustern
Dating-Apps sind fester Bestandteil des Beziehungslebens im 21. Jahrhundert. Sie bestärken den vermeidenden Bindungsstil, da sie ihren Nutzerinnen und Nutzern die Illusion vermitteln, dass die perfekte Beziehung ohne Anstrengung existiert, wenn man erst den richtigen Partner oder die richtige Partnerin gefunden hat. Bindungsvermeidende Menschen neigen ohnehin dazu, Probleme in Beziehungen als Zeichen dafür zu sehen, dass sie nur noch nicht den „richtigen“ Partner gefunden haben. Konflikte oder Erklärungsbedarf darf es ihrer Ansicht nach in Beziehungen nicht geben. Diese Überzeugung wird durch das Marketing der Dating-Apps und ihren Anspruch noch verstärkt.
Auf diese Weise brauchen sie ihr eigenes Verhalten nicht zu hinterfragen und wechseln lieber den Partner, als sich mit ihren durch Trauma geprägten und wirklichkeitsfremden Bindungsmustern auseinanderzusetzen. „Sie/Er versteht mich einfach nicht.“ ist die häufigste Begründung für eine gescheiterte Beziehung.
12. Mentale Gesundheit
Rein statistisch haben Menschen mit vermeidendem Bindungsstil ein höheres Risiko für Angststörungen, Depressionen und ein geringes Selbstwertgefühl. Ihr Verhalten führt zu einem Einsamkeits- oder Isolationsgefühl. Viele haben Probleme, Stress zu bewältigen, viele können nur schwer mit ihren eigenen (negativen) Gefühlen umgehen. Durch ihr Beziehungsverhalten haben sie kaum oder keine soziale Unterstützung, die ein wesentlicher Faktor für ihre emotionale Stabilität und mentale Gesundheit sein könnte.
13. Veränderung ist möglich
Der vermeidende Bindungsstil ist tief in der Persönlichkeit verwurzelt ist, aber eine Veränderung ist möglich. Sie ist jedoch nur sehr mühsam zu erreichen und es bedarf jahrelanger Therapie und Anstrengung. Voraussetzung hierfür ist als erstes Selbstreflexion. Betroffene müssen sich bewusst machen, warum sie Nähe vermeiden. Am besten geschieht das mit professioneller Hilfe (Therapie), die sie dazu bringt, ihre Verhaltensmuster zu sehen, anzuerkennen und zu verstehen.
Auch ein verständnisvoller Partner kann helfen, Ängste schrittweise abzubauen.
Veränderungen brauchen jedoch viel Zeit, da die Angst vor Nähe und Abhängigkeit tief verankert ist. Mit Geduld und Bewusstwerdung ist es jedoch auch ihnen möglich, erfüllende Beziehungen mit gemeinsam erlebter emotionaler Tiefe zu führen.
Wer sich nicht mit der eigenen Bindungshistorie auseinandersetzt, läuft Gefahr, in toxische Beziehungen zu geraten. Das liegt nicht daran, dass er nach toxischen Partnern sucht, sondern dass er gesunde Beziehungen nicht aushalten kann.
14. Fazit
Bindungsvermeidende Menschen haben in "normalen" Beziehungen Schwierigkeiten, aber können loyal, unabhängig und verlässlich sein. Wenn die richtige Balance gefunden wird, können sie durchaus lernen, tiefere Bindungen einzugehen. Ohne RSelbstreflexion geraten sie immer wieder in toxische Beziehungen, weil diese ihrem gewohnten Bindungsmuster entsprechen. Mit Reflexion und Arbeit an sich selbst können sie jedoch lernen, dass Nähe nicht automatisch Verlust von Kontrolle bedeutet. Sie können Stabilität als etwas Positives wahrnehmen und sich langsam an emotionale Intimität gewöhnen, ohne sich überfordert zu fühlen. - Am besten gelingt dies mit einem Partner, der bereit ist, diesen Weg mit ihnen zu gehen.
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